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SR075: Die Zukunft der ländlichen Infrastruktur Ostmitteleuropas

Franz Greif

1 Das Problem

Ein Katalog von Hindernissen der Privatisierung und Umstrukturierung in Ostmitteleuropa beinhaltet - freilich in starker regionaler Abwandlung - folgende Fakten:

Das Fehlen von Tradition und Erfahrung im Umgang mit Privateigentum und das Fortbestehen von Vorurteilen gegenüber privatem Besitz. Die Gefährdung der bisherigen ökonomischen Interessen breiter Schichten, z.B. der Mitarbeiter von Gaststätten, Einzelhandels- und Dienstleistungsbetrieben, die durch Betrug am Kunden relativ leicht gutes Geld kassierten. Viele Angestellte in staatlichen Leitungsorganen und Betriebsverwaltungen werden im Laufe der Privatisierung überflüssig. Außerordentliche organisatorische und technische Schwierigkeiten bei der Privatisierung, insbesondere der Großbetriebe. Die Eroberung leitender Positionen in vielen Privatisierungsgremien durch die ehemalige Partei- und Staatsnomenklatura. Der - nach wie vor existierende - Mangel an rechtlichen Voraussetzungen. So ist Privateigentum an Grund und Boden in manchen Ländern nach wie vor verfassungswidrig. Daher fehlt es an Interessenten, die Unternehmen erwerben wollen, auch wenn sie derzeit herabgekommen, unprofitabel und daher spottbillig sind. Politischer Wirrwarr und erbitterter Kampf verschiedener politischer Strömungen auf staatlicher und regionaler Ebene, was einer zügigen Verwirklichung konkreter Privatisierungsprojekte im Wege steht. Das Fehlen eines entwickelten Wirtschaftsrechts. Die Gewohnheit, Rechtsnormen zu mißachten oder gar zu verletzen, kommt in der praktischen Handhabung der Privatisierungsgesetze immer wieder vor. In diesem Katalog fehlt eines der größten Probleme im Umfeld der Privatisierung: Ein großer Teil der Infrastruktur der Landgebiete Ostmitteleuropas wurde von der Großlandwirtschaft erstellt und erhalten. Es ist noch weitgehend unklar, in welcher Organisationsform und von wem die Infrastruktur in ihrer Gesamtheit oder in Teilen übernommen und weitergeführt werden soll. Vor allem Einrichtungen der sozialen Infrastruktur haben größte Schwierigkeiten, den Privatisierungsprozeß zu überleben. Die ernstesten Schwierigkeiten dieser Art bestehen in den näher zum "sowjetischen Kern" gelegenen Staaten - im Baltikum und den sogenannten "Neuen Unabhängigen Staaten" Weißrußland, Ukraine und in Rußland selbst.

2 Ursprünge des Status quo

Traditionellerweise umfaßt soziale Infrastruktur das Gesundheitswesen, Kultur und Bildung. Sie war in Ostmitteleuropa aber immer eng mit Wohnungswirtschaft, öffentlicher Versorgung und Dienstleistungen gekoppelt. Als einer der wichtigsten Bereiche ist der Wohnungssektor statistisch am besten dokumentiert. Demnach sind Landgebiete generell jene mit dem höchsten Prozentsatz an Privatwohnungen. Der Wohnhausbestand wurde zumeist individuell erbaut. Genossenschaften umfaßten nur einen kleinen Teil des Wohnungsbestandes. Alle anderen Bereiche der sozialen Infrastruktur wurden vom öffentlichen Sektor dominiert. Eine herausragende Beteiligung an der Wohnungswirtschaft hatten die landwirtschaftlichen Genossenschaften und Staatsbetriebe, welchen im Durchschnitt etwa zwei Drittel der Wohnungsressourcen gehörten. Anderen Organisationen (Unternehmen) gehörten nur rund 30 %, der "lokalen" öffentlichen Hand jedoch nur wenige Prozent. Ähnlich sind die Kompetenzen verteilt, wenn es um die öffentlichen Versorgungseinrichtungen geht. Es ist im Laufe der Zeit allgemeine Praxis geworden, daß Staats- und Genossenschaftsbetriebe öffentliche, schulische und kulturelle Einrichtungen übernahmen oder gründeten. Die Produktionsbetriebe haben sogar die wirtschaftlichen Angelegenheiten von Schulen, Spitälern und anderen Einrichtungen besorgt. Eine zufriedenstellende Infrastrukturstatistik existiert jedenfalls in den meisten Ländern Ostmitteleuropas nicht.

Diese Beteiligung der Großlandwirtschaft wurde durch verschiedene Umstände begünstigt:

Kraft Gesetzes war der private Sektor von der Entwicklung der Infrastruktur generell ausgeschlossen. Im Zentralverwaltungssystem war die Rolle der Lokalverwaltung unbedeutend. So waren beispielsweise 80-90 % ihres Budgets für die Aufrechterhaltung der eigenen Verwaltungstätigkeit vorgesehen - wirtschaftliche Aktivitäten waren völlig ausgeklammert. Auch wurden verstaatlichte Einrichtungen bzw. Wohnungsbestände schrittweise den Agrarunternehmen übertragen. Obwohl die lokalen Gebietskörperschaften generell für die "Entwicklung von Landgebieten" verantwortlich waren, fehlten ihnen die dazu nötigen Mittel.

Die staatlichen Funktionen in bezug auf den Infrastruktursektor auf dem Lande wurden zumeist von den dafür kompetenten Bezirksverwaltungsbehörden ausgeübt. Dies führte zusammen mit den übrigen Faktoren zu einem komplizierten, territorial zersplitterten und in der Effizienz sehr eingeschränkten System von "Infrastruktureinheiten" (etwa bei Versorgungsbetrieben, der Abfallsammlung, dem öffentlichen Verkehr oder bei Gesundheitseinrichtungen). Durch die staatliche Mittelverteilung (via Bezirksbehörden) wurden auch die für ländliche Gebiete vorgesehenen Gelder meist in größeren Zentren eingesetzt. Aufgrund staatspolitischer Zielsetzungen war für die Infrastrukturentwicklung das Staatsbudget die Hauptressource. Staatliche Mittel wurden aber auch für die Instandhaltung und sogar für die Betriebskosten (etwa des Gas- und Stromversorgungssystems) angewendet. Die Mieten der Bevölkerung deckten ja normalerweise nicht mehr als ein Zehntel der laufenden Kosten. Das eigentliche konsumierte Gut war praktisch kostenlos und jeder, der den Osten bereiste, wunderte sich über die allerorten feststellbare Verschwendung von Energie. Die nach dem Krieg erfolgte Zentralisierung von Produktion und Finanzen mündete in ein eigenartiges Verteilungssystem staatlicher Gelder, welches (vielleicht nicht überall, aber doch weitverbreitet) neben den Gebietskörperschaften auch die Produktionsbetriebe als eine weitere Verteilungsebene vorsah. In der Periode von 1970 bis 1990 dienten zwei Drittel der Staatsfinanzen zur Erhaltung der Volkswirtschaft (Tendenz: steigend), 20 % dem Erziehungssektor und 10 % dem Gesundheitswesen (die beiden letzteren mit fallender Tendenz). Die Möglichkeiten zur Finanzierung des Infrastruktursektors waren dementsprechend limitiert. Es ist somit nicht verwunderlich, daß das Engagement im infrastrukturellen Bereich mit der Zeit zum Hemmschuh für die Produktionsentwicklung wurde, und die Situation verschlechterte sich vor allem in solchen ländlichen Regionen, die einem stärkeren Verstädterungsprozeß unterlagen. Um die Voraussetzungen für eine Produktionssteigerung nicht zu verlieren, mußten Agrarbetriebe in Infrastrukturen aller Art investieren. Nicht selten gehörten dazu Einrichtungen und Anlagen, die eigentlich ausschließlich zum Aufgabenbereich der öffentlichen Hand zu zählen wären (etwa das lokale Straßennetz). Vor allem in entlegenen Gebieten war die Vertreterrolle der Landwirtschaft für eine (nicht vorhandene) raumwirksame Staats- oder Kommunaltätigkeit von entscheidender Bedeutung. Die auf dem Weg über Produktionsbetriebe verteilten Infrastrukturmittel reichten aber ebenfalls bei weitem nicht aus, sondern waren höchstens ein Teilbetrag der von den Betrieben geleisteten Gesamtkosten. Das Ergebnis war, daß in vielen Fällen die Leistungen der Landwirtschaft ihre reellen Möglichkeiten bei weitem überstiegen. Es liegt auf der Hand, daß hier eine der Ursachen für die mitunter extreme Verschuldung vieler LPGs liegt, die im Zuge der Umstrukturierung zum Vorschein gekommen ist.

3 Zukunftsaussichten der Lebensqualität auf dem Lande

Derzeit ist absehbar, daß in weitesten Teilen Ostmitteleuropas die ländliche Infrastruktur mit den vorhandenen Mitteln nicht erhalten, geschweige denn ausgebaut werden kann. Die Zukunftsaussichten sind daher nicht gerade ermutigend:

Viele Teile des Infrastrukturbestandes (zumindest des unbedingt benötigten, wie Erziehungs- und Gesundheitseinrichtungen) konnten bis jetzt wenigstens erhalten werden. Auch positive Entwicklungsbeispiele gibt es - z.B. den Neubau ländlicher Schulen. Obwohl die Gehälter von Angestellten in sozialen Einrichtungen sehr niedrig sind, verschlingen sie zusammen mit dem Erhaltungsbedarf der Objekte den Großteil der verfügbaren Mittel, oft 80 % und mehr. Auch das Schul- und Erziehungswesen ist ein bedeutender Ausgabeposten für die Budgets von Staats- und Gebietsverwaltungen, desgleichen das Gesundheitswesen. Deshalb sind gerade diese Einrichtungen in ihrem Bestand mehr gefährdet als andere. Aus vielen Ländern - und speziell aus Rußland - werden akute Mißstände in der medizinischen Betreuung, ganz besonders der Landbevölkerung gemeldet, darunter die fatale Auswirkung rasant steigender Treibstoffpreise auf den Einsatz von Rettungsfahrzeugen. Jene Sektoren, von deren Ausbau man sich eine Verbesserung der Lebensqualität auf dem Lande verspricht (Wohnbau, öffentliche Versorgung und Dienste), gehen immerhin den größten Teil der Bevölkerung an, in Landgebieten etwa die Hälfte, in Städten wesentlich mehr. Die Hauptüberlegungen betreffen in vielen Ländern einen Kehraus des alten Systems durch Privatisierung. Das soll sowohl den Betrieb gemeinwirtschaftlicher Anlagen als auch die bei Staat und Regionalverwaltung verbleibenden Einrichtungen verbessern helfen. Die Einführung eines Vollkostensystems für den Servicebetrieb wird wohl unerläßlich sein. Gleichzeitig wird der große Anteil der ärmeren Bevölkerung auf ein tragfähiges Sozialversicherungssystem angewiesen sein. Dazu wiederum benötigt die Verwaltung ein gut funktionierendes Melde- und Berichtswesen. Was das Wohnungswesen anbelangt, so scheint wohl überall die staatliche Budgetschwäche durch zunehmende Privatinitiativen ausgeglichen zu werden. Das Hauptproblem ist das Auffinden des nötigen Startkapitals. Um dieses Problem zu lösen, ist wohl auch etwas mehr Anstrengung seitens der Geldwirtschaft vonnöten, ein sinnvolles und leistungsfähiges Kredit- und Hypothekarsystem einzurichten. Die Übernahme von Sport- und Kultureinrichtungen durch regionale Behörden ist ein eigenes Kapitel, vor allem deshalb, weil hier die private Initiative und auch Spendenbereitschaft der Bevölkerung ausschlaggebend sind. Vom Budget der Gebietsverwaltungen ist jedenfalls nur ein sehr geringer Prozentsatz dafür vorgesehen, sodaß diese Mittel auch nicht annähernd kostendeckend sein können. Öffentlichen Versorgungseinrichtungen (Müllabfuhr, Wiederverwertung, Straßenbeleuchtung etc.) geht es nicht besser. Auch hier erfordert der bloße Erhaltungsbedarf wesentlich mehr Mittel, als derzeit zur Verfügung stehen. Es scheint nicht nur, als ob ohne private Initiative nirgends eine Infrastrukturverbesserung erzielbar wäre, sondern es ist so. Allerdings ist auch eine steigende Nachfrage mit eine Voraussetzung für die sehnlichst erwartete bessere Ausstattung mit finanziellen Mitteln.

Was sollte geschehen, wie könnte hier geholfen werden? Dazu die folgenden abschließenden Bemerkungen:

Aus vielen Meinungsäußerungen unserer Zeitgenossen im Westen ist eine - vielleicht unrealistische, aber doch irgendwie begründbare - "Angst vor dem Osten" herauszuhören. Diese Angst betrifft die Folgen wirklich offener Grenzen, die es ja derzeit überhaupt nicht gibt. Die täglichen Lebenssorgen der Menschen in Ostmitteleuropa läßt diese Angst außer Acht. Wenn sie aber in der Zukunft denkbare Völkerwanderungen von Hungernden und Arbeitsuchenden betrifft, so ist sie sicher nicht einfach abzutun. Doch bis heute wirken Zuzugskontingente und Sichtvermerke streng limitierend. Diese Angst können wir abbauen, wenn wir sie durch Hilfestellung ersetzen. Wir sind heute in der Lage, sehr viel an Know-how, Arbeit und konkreter Anleitung dazu anzubieten. Wenn dies dazu führt, daß die Lebensbedingungen im Osten langsam, aber stetig verbessert werden, dann wird auch die Abwanderungsbereitschaft sinken. Diese vorhin angesprochene Angst betrifft auch die Konkurrenzfähigkeit unserer Wirtschaft und ist hierin - wahrscheinlich - z.T. berechtigt und z.T. übertrieben. Es ist aber keine Frage, daß unsere Wirtschaft - und in erster Linie die Baubranche - sicher in der Lage ist, sich im Infrastrukturausbau im Osten zu engagieren. Zahlreiche Firmen im Grenzraum zwischen Österreich und seinen östlichen Nachbarn sind bereits an gelungenen Kooperationen beteiligt. Ein grenzüberschreitender Gewinntransfer sollte dabei nicht als alleiniges Ziel im Vordergrund stehen. Je mehr unsere Wirtschaft zur Selbsthilfeförderung im Osten bereit ist, umso schneller werden die dortigen Betriebe auch für uns zu echten und kooperationsfähigen Partnern werden. Doch auch unsere Landwirtschaft ist besorgt; seit zwei Jahrzehnten begleitet das Thema "Ostliberalisierung" die agrarpolitische Diskussion. Doch was 1989 und später in Ostmitteleuropa wirklich geschehen ist, bleibt unbeachtet:

Die meisten der damals Verantwortlichen, Genossenschaftsvorsitzende, Funktionäre, Ingenieure, sie konnten mit den zunächst noch völlig unausgewogenen "marktwirtschaftlichen Prinzipien" nichts anfangen. Als sie sahen, daß der mit politischer Emphase aufgezogene Systemwandel in eine echte Wirtschaftskatastrophe mündete, haben sie versucht, zu retten, was möglich war: Die Arbeitskräfte wollte man halten wo es ging, die Produktion wurde so gut wie möglich improvisiert, die Betriebsstätten wurden nicht zerstückelt, sondern (noch) zusammengehalten. Der so entstandene Beitrag zur Stabilität der Gemeinwesen in Ostmitteleuropa ist eigentlich unschätzbar, aber unbedankt geblieben. Und wir sollten sehen, daß in Wirklichkeit auch der Agrarsektor eine Fülle von Möglichkeiten zur Kooperation bietet, freilich nicht für Massengüter, sondern für spezialisierte und qualitätsorientierte Erzeugnisse. Daß der ostmitteleuropäische Systemwandel der letzten Jahre noch nicht (oder höchstens sporadisch) zur Entladung sozialer Spannungen geführt hat, kommt einem Wunder gleich. Wie lange aber das Fehlen eines ausreichenden sozialen Netzes noch angehen mag, ist ungewiß. Auch in Ostmitteleuropa kann es keine unbegrenzt andauernde Lethargie der ländlichen Gesellschaft geben; ein Minimum an sozialer Sicherheit ist für eine Zukunft in Frieden unabdingbar. Hilfestellung beim Aufbau eines sozialen Netzes und auch beim Erhalt der vorhandenen sozialen Infrastruktur in Ostmitteleuropa ist mindestens so wichtig wie Nachhilfeunterricht in "Marktliberalisierung" durch westliche Berater und internationale Institutionen. Und es kommt insbesondere auf die aktive Rolle der Gemeinden an, ob und wie soziale Sicherheit im ländlichen Raum gewährleistet werden kann. Eine der wichtigsten Einrichtungen des Know-how-Transfers wäre wohl eine "Kommunalakademie für Ostmitteleuropa". Wird die ostmitteleuropäische Landwirtschaft Westeuropa - und auch uns -mit Nahrungsmitteln und anderen Produkten überschwemmen? Wohl kaum. Die Agrarproduktion ist in den meisten Ländern drastisch zurückgegangen. Die Landwirtschaft Ostmitteleuropas wird sich erst einmal von den Schlägen der letzten Jahre erholen müssen. Sie wird erst dann schlagkräftig werden, wenn nicht nur die ökonomischen Parameter stimmen, sondern auch der ländliche Raum so umgestaltet sein wird, daß ein Leben am Lande als Zukunftsziel erstrebenswert ist. So, wie die Lebensqualität heute dort ist, kann davon keine Rede sein. Wenn wir an ihrer Verbesserung mitarbeiten, dann geschieht dies nicht nur zum Nutzen der Nachbarn im Osten, sondern in unserem eigenen Interesse.

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